德国总统演讲 独立日总统演讲

Bonn, 1. Juli 1984

Mein erster Gedanke gilt heute dem Mann, aus dessen Hand ich meinAmt übernehme: Karl Carstens.

Ich danke Ihnen für Ihren klugen und uneigennützigen Rat bei derÜberleitung des Amtes. Sie sind Ihren Aufgaben stets und unbeirrbarüberparteilich, aber nie mit neutralerStandpunkt­losigkeit nachgegangen. Sie haben diePluralität der Auffas­sungen in unserem Gemeinwesenstets geachtet. Dennoch haben Sie positiv hineingewirkt in eineSphäre der Meinungs- und Bindungslosigkeit, die der Pluralismusgelegentlich erzeugt.

Ihre Amtsführung war geprägt von der Geradlinigkeit IhresDen­kens und Handelns. Sie haben unser Land mitsicherem Stil und mit Würde vertreten. Dafür möchte ich Ihnen undauch Ihrer von uns allen verehrten Frau von Herzen danken.

Unsere Verfassung spricht ausführlich von unseren Rechten alsBürger. Pflichten dagegen werden kaum erwähnt. In umgekehrter Weisebehandelt das Grundgesetz das Amt des Bundespräsidenten, und zwaraus wohlerwogenen Gründen. Von seinen Befugnissen ist nur spärlichdie Rede. Dagegen werden seine Pflichtenhervor­gehoben, und sie werden an die höchstenZiele gebunden. Denn was könnte es Größeres, aber auch Schwereresim Staat geben, als dem Wohl des Volkes zu dienen, seinen Nutzen zumehren, Scha­den von ihm zu wenden undGerechtigkeit gegenüber jeder­mann zu üben?

Das sind die Ziele - wörtlich in der Verfassungvorgeschrie­ben -, auf die ich soeben meinen Eidgeleistet habe. An ihnen orientieren sich meine Pflichten. Sie sindes, die mich auch heute legitimieren, Ihnen aus Anlass meinerAmtseinführung ei­nige persönliche Gedankenvorzutragen.

Meine Kraft dem deutschen Volk zu widmen ist meine Aufgabe. Demdeutschen Volk? Wer ist gemeint? Stocken wir hier schon? Ich glaubenicht. In beiden deutschen Staaten lebt dasdeut­sche Volk. Von ihm, von dem ganzen deutschenVolk, geht die Präambel unseres Grundgesetzes aus.

Unmittelbar verpflichtet mich unsere Verfassung auf dieBun­desrepublik Deutschland. In ihr und von ihr auswollen wir un­sere Beiträge für die Zukunftleisten, um nach innen und außen in Frieden zu leben, die Teilungzu überwinden, die Vereini­gung Europas zu fördernund unserer Verantwortung in der Welt gerecht zu werden. Dazumüssen wir unsere heutige staatliche Gegenwart ernst nehmen.

Die Bundesrepublik Deutschland muss eine handlungsfähigeEin­heit sein. Dies ist es, was auch die Deutschenin der DDR von uns erwarten. Europa wächst nicht aus verunsichertenVölkern, die auf der Flucht vor ihrer Gegenwart leben, sondern nuraus lebensfähigen, von ihren Bürgern getragenen Einheiten.

Gewiss, wir haben unsere besonderen Schwierigkeiten mit unseremNationalgefühl. Unsere eigene Geschichte mit ihrem Licht und ihremSchatten und unsere geographische Lage im ZentrumEuro­pas ha­ben dazu beigetragen.Aber wir sind nicht die einzigen auf der Welt, die ein schwierigesVaterland haben. Das sollten wir nicht vergessen. Nirgends sindzwei Nationen einander gleich. Jedes Nationalgefühl hat seinebesonderen Wurzeln, seine un­verwechselbarenProbleme und seine eigene Wärme.

Unsere Lage, die sich von der der meisten anderen Nationenun­terscheidet, ist kein Anlass, uns einNationalgefühl zu versa­gen. Das wäre ungesund füruns selbst, und es wäre nur unheim­lich für unsereNachbarn.

Wir müssen und wir dürfen uns in der BundesrepublikDeutsch­land zu unserem nationalen Empfindenbekennen, zu unserer Ge­schichte, zur offenendeutschen Frage, zur Tatsache, daß wir überzeugte Bündnis- undGemeinschaftspartner sein können und doch mit dem Herzen auchjenseits der Mauer leben. Wir sind kein Volk verwirrter Gefühleoder romantischer Grübeleien. Wir sind auch keine wanderndenMissionare zwischen den Welten. Wir sind Menschen wie andere auch.Unsere Nachbarn dürfen davon ausgehen, daß auch sie in unserer Lageganz ähnlich empfinden würden.

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Zwei Grunddaten sind es, die diese Lage kennzeichnen. Das eine istdie Zugehörigkeit zum Westen. Sie beruht auf unsererEnt­scheidung für die Grundwerte des freiheitlichenund sozialen Rechtsstaates. Sie ist endgültig und unwiderruflich.Es ist dieser geistige und humane Boden, auf dem unsereMitglied­schaft in der Europäischen Gemeinschaftund im Atlantischen Bündnis beruht.

Nur weil die Partnerschaft auf gemeinsamen Überzeugungen vonMenschenrecht und freier Gesellschaft gründet, kann sieInter­essen ihrer Mitglieder schützen. Unser Willezu dieser Part­nerschaft ist keine opportunistischeEpisode von vor­überge­hender Dauerund schon gar kein Gegensatz zu unserer deutschen Identität,sondern vielmehr ihr unentbehrlicher Bestandteil. Wir haben längerals andere gebraucht und es nur unter größe­renSchmerzen erreicht, zu dieser Lebensform zu kommen. Umso wenigerwerden wir sie je wieder preisgeben wollen.

Eine besondere Gemeinschaft verknüpft uns mit den Deutschen imanderen deutschen Staat. Das ist das andere Grunddatum unsererLage. Die Geschichte hat ihnen am Ende des Zweiten Weltkrieges denschwereren Teil als uns auferlegt. Umso mehr sollten wir sie spürenlassen, daß wir die Verantwortung für diese Geschichte mit ihnenebenso teilen wie die Wurzeln unseres geistigen und sozialenLebens, allen Systemunterschieden zum Trotz. Dies gilt nicht nurfür die großen Zeugnisse aus der Vergangenheit, für die Dome inNaumburg, Erfurt und Güstrow, für den Geist aus Wittenberg undWeimar, für die Musik aus Leipzig und Dresden. Es kennzeichnet auchdie heutige lebendi­ge Wechselwirkung. Bewegend waretwa die Aufnahme, die die Berliner Philharmoniker im neuenGewandhaus zu Leipzig gefun­den haben. Oder, um einanderes Beispiel zu nennen: Die Aussa­gen vonChrista Wolf haben auch für uns im Westen einebestim­mende geistige Bedeutung. Man denke nur etwaan ihre Frankfur­ter Kassandra-Vorlesungen.

So schön Teneriffa ist und so wichtig das Silicon Valley für unsereEntwicklung auch sein mag, der Neuaufbau der Semperoper in Dresdenund das Leben der christlichen Gemeinden in der DDR berühren auchuns zutiefst.

Uns Deutsche in Ost und West verknüpft eine elementaremensch­liche Zusammengehörigkeit. ErzwungeneAbgrenzung und Zeitab­lauf haben sie nichtabsterben lassen. Man denke nur an die Mauer. Die Absicht ihrerErbauer war nur allzu klar und folge­richtig. Esgalt, das eigene politische System zukonsolidie­ren. Die Bevölkerung der DDR sollte sichabfinden mit Teilung und Trennung. Aber fast noch deutlicher alsvor 23 Jahren se­hen wir heute, daß die Mauerdieses Ziel verfehlt. Wider Wil­len ist sie derüberzeugende täglich frische Beweis, dass die Frage offen ist, diesie abschließend zu beantworten versuch­te. Siemacht die Zusammengehörigkeit nur augenfälliger, die sie vergessenmachen wollte.

Sorgen im Ausland über die Beständigkeit der deutschen Politikkönnen wir umso glaubwürdiger begegnen, wenn wir unbequemeRealitäten der deutschen Lage nicht verschweigen, denn siege­hören zur menschlichen Natur. Wiederum ist dieMauer in Berlin dafür Beispiel. Ich habe dort noch keinen Polenoder Franzo­sen, keinen Afrikaner oder Amerikanererlebt, der in ihrem An­gesicht nicht so empfundenhätte wie wir. Übrigens hat auch Chruschtschow sie eine "hässlicheSache" genannt, die wieder weichen müsse, wenn die Gründe für ihrenBau entfielen. Und welche Gründe? Auf einer Synode in der DDR wardavon unlängst eindrucksvoll die Rede: Die Menschen in der DDRfühlen sich ihrer Heimat verbunden. Sie wollen nicht weg.

Heimat ist aber, so hieß es, nicht nur dort, wo man geboren ist.Heimat ist der Ort, wo man in Verantwortung genommen wird und woman verantwortlich sein kann. Mehr Mitsprache undMit­verantwortung einräumen - das nimmt das Gefühlvon Heimatlo­sigkeit und macht Ausreiseanträge undAbgrenzung überflüssig.

Was die Menschen in zwei deutschen Staaten miteinanderverbin­det, kann nur im Frieden gedeihen. DieDeutschen haben nicht mehr Angst oder mehr Friedensliebe als andereVölker auch. Aber ihre Zusammengehörigkeit über Paktgrenzen hinweggibt ihnen besondere Impulse in Richtung auf den Frieden. Lebtenwir ohne inneres Band gleichgültig nebeneinander in zwei Lagern, sowäre vielleicht unser Engagement für den Frieden wenigerintensiv.

Die Teilung ist ein großes Leid. Die Trennung von Menschen, diezusammengehören, erzeugt aber auch eine friedensstiftende Kraft,die uns besonders nachdrücklich nach Beiträgen zurVer­ständigung in der internationalen Lage suchenlässt.

Wir sind in beiden deutschen Staaten einig im Begriff derVer­antwortungsgemeinschaft. Die Führungen aufbeiden Seiten be­kennen sich dazu, daß nie wiederKrieg vom deutschen Boden ausgehen soll. Das ist gut. Aber damitist, wie jeder weiß, der Frieden noch nicht gesichert. UnserFrieden hängt von der Lage zwischen Ost und West im Ganzen ab.

Auf sie, auf das Ganze einen friedlichen Einfluss zu suchen, daraufkommt es an. Nur so dienen wir unseren deutschenInter­essen, nicht aber mit dem Gaukelbild einerNeutralisierung. Es gibt nur einen Ausstieg, nämlich den mit demKopf in den Sand.

Das Atlantische Bündnis, zu dem wir fest stehen, hat schon in denspäten sechziger Jahren mit dem Harmel-Bericht dieRich­tung gewiesen, die auch heute gilt:Verteidigung und Entspan­nung als untrennbareBestandteile unserer Politik gegenüber der Sowjetunion und ihrenVerbündeten. Wir müssen und wir wer­den unsereFreiheit schützen. Daher lassen wir mit uns über unseren Platz imBündnis und über seine Fähigkeit zur Vertei­digungnicht verhandeln. Sicherheit ist erforderlich. Siever­langt die Fähigkeit zum Selbstschutz aufmöglichst niedrigem Niveau.

Wir wollen unseren vollen Anteil an der Verteidigung tragen. Wirtun es im Bewußtsein, dass die Verantwortung für denFrie­den im atomaren Zeitalter fast übermenschlichgroß ist. Allzu ­oft schon in der Geschichte sinddie Völker in Kriege gegen­einander geraten,zumeist gegen ihren Willen, oft durch Pannen und Irrtümer. DieWirkung der heutigen Waffen aber hat den Charakter eines Kriegesverändert. Wenn die Menschheit überleben will, dürfen die Waffennicht eingesetzt werden.

Damit wird von uns eine ganz neue Kraft, eine ganz andereQua­lität im Umgang mit Konflikten verlangt. Esgibt keinen unent­rinnbaren Weg in die Katastrophe.Aber es gibt beileibe auch keinen zwingenden Grund zu Optimismus.Im Zeichen der Kernwaf­fen erlebt Europa heute eineseiner längsten Friedenszeiten, und wir sind dankbar dafür. Es istaber leichtfertig zu glau­ben, daß uns nur deshalbauch eine friedliche Zukunft für immer sicher sei.

Zahl und Perfektion der Waffen steigen von Jahr zu Jahr. VieleMenschen haben das Gefühl, daß dennoch oder vielleicht gerade darumdie Sicherheit abnimmt. Jede Provokation, jedesImpo­niergehabe, jedes waffentechnischeÜberholmanöver und auch je­des unbeabsichtigteMissverständnis können gefährlich sein.

Es ist mit den Waffen wie mit anderen Bereichen derwissen­schaftlichen und technischen Revolutionauch. Der Mensch hat sich im Umgang mit der Natur schiergrenzenlose Möglichkeiten eröffnet. Nun stößt er an eine neueGrenze, näm­lich die seiner eigenen herkömmlichenEinsicht und Verantwortung.

Da liegt die gewaltige Gefahr, aber auch die große und neue Chance.Weil die Kernwaffen die Menschheit auslöschen können, können siekeine Konflikte mehr lösen. Wir müssen um desLe­bens willen zu einer neuen Einsicht undVerantwortung im Umgang mit Konflikten vorstoßen. Das ist die großeHer­ausforde­rung vor uns.

Werden wir diese Herausforderung bestehen? Werden wir denen, diedie Hauptverantwortung tragen, helfen können, anstatt es ihnen zuerschweren? Werden wir zur Vertrauensbildungbeitra­gen? Keinen Tag dürfen wir uns dem Druckdieser Fragen entzie­hen - keinen Tag inmitten desFriedens, in dem wir dankbar leben.

Wir Deutschen wollen in Frieden auch mit unserenNachbarvöl­kern des Warschauer Paktes leben. Siegehören einem fundame­n­tal anderenSystem zu, aber mit uns sind sie durch gemeinsame Geschichte,Kultur und Friedenswillen verbunden. Sie sindEu­ropäer wie wir, und das sollten wir nievergessen.

Friedliche Beziehungen zur Sowjetunion haben für uns einbe­sonderes Gewicht. Dazu müssen wir die Realitätenernst nehmen wie sie sind. Kein Bündnis wird das andere mit einemRüstungs­wettlauf in die Knie zwingen. An denVerhandlungstisch wird die Sowjetunion kommen, wenn es gelingt,ihre eigenen Interes­sen dafür zu mobilisieren. Zueinem inneren Reformkurs wird sie sich durch Druck von außen nichtnötigen lassen. Es gilt, bei der Sowjetunion, aber auch bei unsselbst, einem gegensei­tigen allzu vereinfachtenWeltbild entgegenzuwirken.

Unzureichende Informationen und Vorurteile erzeugenwechsel­seitig unbegründete Angst, die nichtweniger gefährlich sein kann als Rüstung. Auch fördert es denFrieden nicht, die Welt in gut und böse einzuteilen.

Wir verlieren unser Unterscheidensvermögen zwischen Freiheit undTyrannei keineswegs, wenn wir die Menschen in derSowjet­union für so gut oder so böse halten wie unsselbst.

Auch wenn wir alle Kraft auf eine besonnene undverantwortli­che Sicherheitspolitik verwenden, sosollten sich doch die Ost-West-Beziehungen nicht inSicherheitsfragen er­schöpfen. Rüstung, Abrüstung,Rüstungskontrolle, kurz, der ganze Bereich der Sicherheitspolitikist von großer Bedeu­tung, aber er ist dieRahmenbedingung der Ost-West-Bezie­hungen, dagegennicht ihr eigentlicher Inhalt. Er darf, was die friedensstiftendeWirkung betrifft, nicht ein Monopol über unser Denken undHan­deln annehmen. Denn diese friedensstiftendeWirkung, so lehrt historische Erfahrung, zeigt, dass in der Regelnicht Abrüstung den Weg zum Frieden ebnet, sondern friedlicheZusammenarbeit den Weg zur Abrüstung.

In diesem Zusammenhang kann es auch deutsche Friedensbeiträgegeben. Wir sind keine Führungsmacht, wie verfügen nicht überKernwaffen, aber wir haben eine Klimaverantwortung für dasOst-West-Verhältnis. Die Kontakte zwischen verantwortlichenPolitikern beider deutschen Staaten sind zahlreicher geworden. Manspricht unbefangener miteinander als früher. Man verliert wenigerZeit mit propagandistischen Einleitungen. Nun gilt es, die Substanzanzureichern. Wir wollen die anderen nichtge­sundbeten, uns aber auch nicht ineinanderverkrampfen. Ent­scheidend ist die Entspannung, diesich nicht in Begegnungen der Politiker erschöpft, sondern von derBevölkerung selbst am eigenen Leib erlebt werden kann. So könnenKlima und Beziehun­gen der beiden deutschen Staateneine verklammernde Wirkung mit sich bringen, die sich gegenniemanden richtet, aber die dem Frieden in Europa nützen kann.

In diesem Sinne wäre ein Besuch des Generalsekretärs der SED undStaatsratsvorsitzender der DDR bei uns zu begrüßen.

Für mich hoffe ich auf eine Entwicklung der Verhältnisse für einespätere Gelegenheit, in die DDR reisen zu können, mitde­ren Menschen ich mich tief verbunden fühle unddie ich herz­lich grüße.

Ich komme aus Berlin in mein neues Amt. Die Geschichte dieser Stadtwar immer geprägt von Weltoffenheit, Toleranz undLibe­ralität. Berlin wurde zum Zentrum desDeutschen Reichs. Es war nicht die Geburtsstätte, aberMachtmittelpunkt der nationalsozialistischen Herrschaft. So wurdeBerlin auch Ausgangspunkt für Weltkrieg und schließlich für denHolocaust. Wir alle haf­ten für unsägliches Leid,das im deutschen Namen geschehen ist.

Aber nicht nur Schrecken und Verbrechen verbreiteten sich vonBerlin, sondern auch immer wieder und bis zuletzt tapfere undselbstlose Taten der Menschenhilfe und des Widerstandes. Wir werdenihrer am 20. Juli in Berlin gedenken.

Trotz Zerstörung, Teilung und isolierter Lage ist Berlin der Platzgeblieben, der uns - wie kein anderer - Maßstäbe fürun­ser Denken und Handeln gibt. Bald nach dem Kriegwurde die Stadt unter notvollem Druck von außen zum Symbol derFrei­heitsliebe der Menschen. Unter gegenseitigemRespekt wurden dort aus ehemaligen Kriegsgegnern Freunde.

Dafür gilt heute unser Dank den Franzosen, den Briten und nichtzuletzt den Amerikanern, denen wir überall in Frieden herzlichverbunden sind.

Und erlauben Sie mir bei diesem Anlaß als Vertreter desKon­gresses der Vereinigten Staaten einen altenFreund der Deut­schen, den Senator Mathias,herzlich zu grüßen.

Von Berlin aus sind wir einander berechenbare und zuverlässigePartner geworden, und wir werden es bleiben.

In Berlin leben die wichtigsten Impulse derZusammengehörig­keit aller Deutschen. Nirgendserklärt sich der notwendige Zu­sammenhang vonSchutz der Freiheit im Bündnis und von friedli­cherEntspannung nach Osten so selbstverständlich wie inBer­lin. In Berlin hat sich auch gezeigt, daß Ostund West sich auch dort über praktische Regelungen verständigenkönnen, wo prinzipielle Meinungsverschiedenheiten zur Zeit nichtüber­brückbar sind.

In Berlin hat sich im vollen Bewusstsein der fruchtbarenVer­gangenheit wieder eine jüdische Gemeindezusammengefun­den, um einen neuen Anfang mit uns zumachen. Nicht ver­drängen, sich erinnern hilftweiter. Daran hat sie sich gehalten. Inzwischen ist weit überBerlin hinaus im Juden­tum wieder Vertrauengewachsen. Eine menschliche Brücke ist entstanden. Sie ist nochzart und anfällig. Aber sie trägt wieder, und sie darf nie wiedereinstürzen.

So erfüllt Berlin entscheidende nationale Aufgaben für alleDeutschen. Ich bin froh, auch im neuen Amt mit Herz undVer­stand Berliner bleiben zu können.

Die wichtigste Aufgabe für uns, die wir heute Verantwortung tragen,ist die lebenswerte Zukunft für nachfolgendeGenera­tionen. Unsere Nachfahren werden nichtfragen, welche Zu­kunftsvisionen wir für siebereithielten; sie werden wissen wollen, nach welchen Maßstäben wirunsere eigene Welt einge­richtet haben, die wirihnen hinterlassen. Woraufhin also le­ben wirheute, in unserer Zeit?

Die Maßstäbe dafür kann niemand vorschreiben. Auf der Suche nachihnen gibt es ständig Konflikte und Veränderungen.Jahre­lang herrschte ein neuer, ein aufbruchartigersozialer und kultureller Fortschrittsglaube vor. Das Zutrauen, daßwir die guten Dinge machen können, bestimmte die Diskussionen. DenUtopien folgten Ernüchterung und Enttäuschung. Heute sind dieStimmungen von einem Zeitgeist geprägt, der zwischenZukunfts­angst und Optimismus hin- und herschwankt.Seine heftigen Aus­schläge sind kein sehr stabilesZeichen.

Nutzen mehren, Schaden abwenden - beides gilt dem uns allenanvertrauten Wohl. Worin sehen wir dieses Wohl?

Nach wie vor beschäftigten wir uns stark mit unsererwirt­schaftlichen Lebensgrundlage, mit unseremmateriellen Wohler­gehen. Wir leben im Bestreben,weit vorn in der Weltrangliste von Wirtschaft und Technik zustehen. In unserer Lage kann das auch gar nicht anders sein. Aberdamit erfüllen wir den poli­tisch-humanen Begriffdes Wohls nur sehr mager. Das Wohl, das uns anvertraut ist, weistauf das Dauernde im unaufhaltsamen Wandel hin, auf das, was es inder Natur der Welt und des Menschen zu bewahren gilt. Es zielt aufeine Sittlichkeit, die für sich in Anspruch nimmt, über den Tag unddie Generation hinaus zu bestehen. Sie fragt nach einemhuma­nen Maßstab für die Anwendungwissenschaftlicher und techni­scher Fähigkeiten.Sie betrifft die Kultur im Umgang von Men­schen mitMenschen, mit Dingen und mit der Zukunft. Dafür kann ich nurBeispiele nennen.

Es kommt meinem Amt zu, Fragen zu stellen und die Arbeit fürAntworten auf sie zu ermutigen, nicht aber Rezepte anzubieten. Vonden Gefahren immer neuer, wirkungsgenauerer Waffen war schon dieRede.

Den Ertrag des Bodens kurzfristig zu steigern, haben wirge­lernt. Können wir aber auch verhindern, dass derBoden auf die­se Weise langfristig abstirbt? Werdenwir angesichts unserer angewachsenen Macht, die Zukunft schon heutezu verbrauchen, auch in unseren Enkeln unseren Nächsten erkennenlernen?

Fragen wir uns unerbittlich genug, ob aus dem, was wir heute tun,keinem Nachgeborenen ein Schaden entsteht? Können wir uns aus dermenschlichen Überheblichkeit befreien und Rücksicht auf die Naturum ihrer selbst willen lernen?

Die Produktionstechnologie macht sprunghafte Fortschritte. Siemacht schwere Arbeit leichter, und das ist human. Sie machtvielfach Arbeit überhaupt überflüssig, und mit den Folgenwer­den wir bislang nicht fertig. TechnischerWandel schafft zwar auch neue Arbeit, er verändert und verlagertsie. Die Übergän­ge aber sind es, die uns zuschaffen machen. Viel zu alte und junge Menschen suchen zur Zeitvergeblich Arbeit. Wir brauchen die Tarifautonomie; wir dürfenArbeitskämpfen nicht auswei­chen.

Auch ich möchte den Vermittlern im jetzigen Konflikt meinenherzlichen Dank sagen.

Aber werden wir nach diesen schweren Monaten eine Neubesinnung aufeine Sozialpartnerschaft erleben, die wir dringender als jebrauchen? Die Verbände haben große wirtschaftliche undso­ziale Macht, weit über ihre Mitglieder hinaus.Werden sie sich und werden wir alle uns mit ihnen im wirklichuneigennützigen Kampf zugunsten Dritter, nämlich derer bewähren,die Arbeit suchen?

Europa ist für uns und für die Zukunft von entscheidenderBe­deutung. Die Stimme der Europäer und ihreVerantwortung in der Welt sind dringend gefragt. Die Notständeverlangen es gebie­terisch: die Überbevölkerung,der Hunger, die sozialen Span­nungen, dieZahlungsunfähigkeit. Wir kommen auf unseremstei­nigen Weg langsam vorwärts.

Gerade jetzt sind wir für Fortschritte dankbar, die inFon­tainebleau erzielt wurden. Aber Großes undSchweres bleibt zu tun. Junge Menschen z. B. werden wir für Europaerst gewinnen, wenn wir ein System überwinden, mit dem wir hier beiuns Ernährungsüberschüsse finanzieren, die dort nicht einsetzbarsind, wo Menschen Hungers sterben.

In Australien haben Ärzte aus einem monatelang tiefgekühlten Embryoein Kind entwickelt. Eine amerikanische Zeitschrift meinte dazu,die Embryos würden hier "mit ebensoviel Respekt wie gefroreneErbsen" behandelt. Verständlicherweise werden die besorgten undheftigen Fragen zunehmen. Was für wissen­schaftlichentwickelte Wickelkinder wird es noch geben?

Was uns Not tut, ist aber nicht die Emotionalisierung, sondern diegemeinsame sachliche und strenge Suche nach einerangemes­senen Ethik. Auch die Forschung am Menschenist Teil der frei­en Wissenschaft. Aber dieFreiheit ist nicht schrankenlos.

In vielen Bereichen haben wir genaue Vorschriften für denUm­gang mit dieser Freiheit, z. B. beim Eigentum.Reicht für die Forschung am Menschen und ihre Anwendung dieverantwortliche Selbstkontrolle der Wissenschaft aus? Oder müssenwir ihr nicht doch mit klareren Rahmenregeln helfen? Will sie esnicht in Wirklichkeit selbst?

Maßstäbe für den Umgang untereinander ergeben sich aus denEr­fahrungen während der Kindheit. Maßgeblich dafürist das Bei­spiel der Älteren in der Familie, sinddie Schulen, ist aber auch das Fernsehen.

Besonders viele Fragen richten sich an die Entwicklung derelektronischen Medien. Werden uns die Gründerjahre der neuenMedien, wie manche meinen, das neue Heil bringen?

Werden wir mit ihnen beweisen können, daß wir dem technischenFortschritt menschlich gewachsen sind? Oder werden sie eineIndustrialisierung des Bewußtseins bringen, eine neue,tiefge­hende Entfremdung? Werden sie uns dieeigenen Erlebnisse rau­ben und sie durchvorgefertigte, standardisierte Erfahrungen ersetzen? Werden wiruns, wenn die Videofilme immer perfekter und zahlreicherGewalttaten und Katastrophen elektronischver­breiten, auch hier damit zufrieden geben, derGebrauch der Freiheit kenne nun einmal keine Grenzen? Werden unsdie Medien also ungehemmt nahe bringen, wie man gegeneinander lebt?Oder werden sie uns helfen, zu lernen, was viel schwieriger, aberauch viel wichtiger zu lernen ist, nämlich wie wir miteinanderauskommen?

Die Sehnsucht des menschlichen Herzens geht gewiss über eineDenver-Clan-Koexistenz hinaus. Aber wir dürfen uns nichtal­lein auf die Stärke der menschlichen Natur zurSelbstbehaup­tung verlassen. Es genügt auch nicht,auf die beruhigende Statistik zu bauen, wonach bisher nur 26Pro­zent aller Zuschauer beim Fernsehen noch nieeingeschlafen sind.

Ich gestehe, meine Damen und Herren, auch ich gehöre nicht zudieser standhaft wachen Minderheit.

Müssen wir nicht vielmehr die gewaltige, langfristigeProble­matik einfach noch viel ernster nehmen alsbisher? Ich meine nicht nur die Programm-Macher, sondern auch unsZuschauer. Denn wir sind ja dieselben Menschen - hüben und drüben.Es ist erstaunlich, wie viele Forschungsgebiete der Staat seit Jahrund Tag fördert, wie stiefmütterlich er aber bisher dieMedienwir­kungsforschung behandelt hat.

Es gab viel ideologischen Streit, Konflikte um vermeintlichparteipolitische Vorteile, aber wenig empirischeSozialfor­schung. Muss das so bleiben? Sollten wiruns nicht auch hier die Frage nach Regeln für den rechten Gebrauchdieser Freiheit stellen?

Den Schulen gilt die Frage, ob sie nicht nur Lehranstalt sind,sondern Lebensraum. Lernen die Kinder neben der notwendigenkritischen Fähigkeit, Konflikte zu führen, auch, Konflikte zubeenden? Das Beispiel der Erwachsenen ist da mitunter recht trübe.Lernen sie, etwas von sich zu verlangen und dadurchSelbstbewusstsein und Lebensmut zu gewinnen?

Der Sport - Sie haben ihn schon erwähnt - ist dafür wertvoll; mankann dies vor allem beim Versehrtensport sehen. Freilich, dieErfahrung mit dem Sport gilt natürlich auch fürErwachse­ne, auch für Ältere. Die 680.000Mitbürger, die im letzten Jahr das Sportabzeichen erworben haben,werden auch mir als gutes Beispiel dienen.

Welche Rolle spielt neben dem erlernbaren Wissen diePhanta­sie? Sie ist kein musischer Winkel für einpaar künstlerisch Begabte, sondern sie ist eine Lebenshilfe fürjeden von uns in der technischen Welt. Ich bin keinsachverständiger Liebhaber aller Schöpfungen von Joseph Beuys. Aberich bin beeindruckt von seinem pädagogischen Kunstbegriff undseinen Forderungen, daß wir uns nicht in Künstler und Nichtkünstlereinteilen las­sen dürfen. Vielmehr sollten wir injedem Menschen einen Mit­gestalter von Leben undZukunft und damit einen auf seine Wei­sekünstlerisch tätigen Mitmenschen sehen.

Kinder, die musisch erzogen werden und schon früh das Gefühl fürReim und Rhythmus bekommen, lernen später besser lesen. Wer gutlesen kann, versteht und verarbeitet überdieserwiese­nermaßen das Fernsehen besser. Ich hoffe,mit Schülern aller Schulen möglichst oft zusammenzutreffen undsprechen zu kön­nen.

Jahrzehnte hindurch haben wir die Lebensbedingungen derFami­lie materiell und moralisch geschwächt. Dasuns anvertraute Wohl nimmt dadurch schweren Schaden. Wie können wirihn wen­den? Wie begegnen wir dem Zusammenwirkenvon familienfeindli­cher ökonomischer Struktur undmenschlicher Bequemlichkeit? Wird uns die lebensnotwendigeKorrektur eines Systems gelin­gen, welches denGegenwartskonsum fördert, die Zukunftsvorsor­gebestraft und damit den Wunsch nach Kindern entmutigt?Wer­den wir der viel zu weit gehenden, derunmenschlichen Isolierung alter Menschen wehren? Wird es gelingen,die Kinder wäh­rend ihrer ersten Lebensjahre unterbesseren Bedingungen im eigenen Elternhaus zu erziehen und damitfrühkindliche Ge­sundheitsschäden zu vermeiden?

Was Frauen in unserer Zeit vor allem bewegt und was siefra­gen, ist berechtigt und ist Ausdruck einerhistorischen Verän­derung. Es ist in erster Liniean uns, an den Männern, zwar nicht immer die Antworten zu geben,aber sie möglich zu ma­chen. Wenn Männer die Fragender Frauen ernst nehmen, ohne sie auf dem Rücken der Familie zubeantworten, dann müssen sie zunächst sich selbst stärker denFamilien zuwenden.

Je mehr bloße Zweckbündnisse, vorübergehende Beziehungen unterMenschen entstanden sind, desto mehr wächst zugleich eintie­fes Verlangen nach Entschiedenheit, nachVerbindlichkeit und Dauer, nach etwas anderem als dem Managementvon Beziehungs­krisen, nach Bindung, Wärme undLiebe. Es geht nicht um Part­nerschaft alsEhe-Ersatz, sondern es geht um partnerschaftliche Ehe.

Es gibt bei uns besondere Minderheiten. Ich denke an die bei unslebenden Ausländer. Auch hier muß sich die Kultur imUm­gang vom Menschen mit dem Menschen bewähren. Daserfordert große Anstrengungen auf beiden Seiten. Gelingen kann esnur, wenn die Zahl der Ausländer nicht weiter wächst. Dieallermei­sten von ihnen haben wir eingeladen, zuuns zu kommen. Das ist unsere Verantwortung. Sie erbringen ihreLeistungen, aber vie­le von ihnen leben inSpannungen und Zukunftssorgen.

Soweit sie auf die Dauer bei uns bleiben wollen, müssen sie dieFähigkeit und den Willen entwickeln, mit uns allmählichzusammenzuwachsen. Unsere Aufgabe ist es, Lebensbrücken zu bauenund der kulturellen Eigenständigkeit der Ausländer Raum zulassen.

Die beste Friedenserziehung für Kinder wird es, so glaube ich,sein, Ausländerkinder in deren Familien zu besuchen und ihnen dortzu helfen. Dann erwerben sie ganz von selbst einEmpfin­den dafür, daß sich Deutsche und Ausländergegenseitig achten und bereichern können.

Dringend unserer Zuwendung bedarf der Strafvollzug. Das ist keinProblem der Ideologie, sondern der praktischenVerhält­nisse, unter denen Insassen und Mitarbeiterim Vollzug leiden. Vor allem bei Jugendlichen und Erststraftäternsollte an ihre Zukunft gedacht werden.

Für das Gnadenwesen frage ich, wie wir verhindern können, daß esimmer weiter verrechtlich und abstrahiert wird. SeineHand­habung sollte daran erinnern, wo es herkommt.Das Recht ist ein wichtiger Maßstab für Gnade. Aber es darf nichtder einzi­ge sein. Recht ist auf Gnade angewiesen:Gnade vor Recht.

Zehn Beispiele für Fragen nach einer lebenswerten Zukunft, die unsheute bewegen, habe ich genannt.

Bei den Konflikten, die sie mit sich bringen, haben wir es miteiner Polarisierung quer durch Parteien, Schichten undAlters­gruppen hindurch zu tun. Die einen wollendie Gesellschaft mit radikalen Protestaktionen aufrütteln und aufGefahren für die Zukunft aufmerksam machen. Andere sehen in derRadikalität von Protesten eine Gefahr für die freiheitlicheDemokratie und da­mit einen Grund zur Sorge um dieZukunft.

Ich glaube, wir müssen beide Ansätze ernst nehmen. DieDemo­kratie kann nur bestehen, wenn dielangfristigen Überlebens­fragen der Menschheitschonungslos erörtert und glaubwürdig beantwortet werden.Angesichts des gewaltigen Ausmaßes der Probleme kann dies nichtohne Härte und Ungeduld abgehen.

Es ist fatal, wenn beim Bürger der Eindruck entsteht, auf ihn kämees gar nicht an, denn "die da oben" machten ja doch, was siewollten. In Wirklichkeit wissen doch wir Politiker oft selbst nochkeine Lösung und sind dringend auf Mitberatungan­gewiesen.

Ich meine, es ist ehrlicher und überzeugender, dies offenein­zugestehen, statt zu glauben, wir Politiker -egal welcher Richtung - schuldeten dem Publikum nur einenermutigenden Op­timismus und dem Gegner scharfeKonfrontation.

Andererseits können wir die Überlebensfragen der Menschheitnirgendwo mit einer größeren Chance auf Erfolg behandeln als in derDemokratie. Sie ist offener und lernfähiger als jede andereRegierungsform. Auch wenn es oft nicht schnell genug geht und nichtimmer auf Anhieb der Weg gefunden wird, so ist doch die Demokratieam besten in der Lage, Fehler zur Sprache zu bringen, sich zukorrigieren, Einsichten und Vernunft im Widerstreit der Meinungenzu entwickeln.

Entscheidend ist die Freiheit. Sie allein macht es möglich,gemeinsam die Wahrheit, das richtige Ziel und die richtigen Mittelund Wege zu suchen.

Die Demokratie ist die einzige Staatsform, die den stetsnot­wendigen Weg zum Wandel in Frieden finden läßt.Damit dies möglich bleibt, darf die Radikalität des Streitensniemals die Regeln des Rechts verletzen, denn diese sind dieBedingungen für die Freiheit und die Kraft zur Reform.

Damit wir in dieser Freiheit zu Entscheidungen kommen können, mußes nach dem Mehrheitsprinzip gehen. Dabei wissen wir alle, daß dieMehrheit genauso wenig über die Wahrheit verfügt wie dieMinderheit. Keiner darf für sich den Besitz der Wahrheitbeanspruchen, sonst wäre er unfähig zum Kompromiß undüber­haupt zum Zusammenleben; er würde keinMitbürger, sondern ein Tyrann. Wer das Mehrheitsprinzip auflösenund durch die Herr­schaft der absoluten Wahrheitersetzen will, der löst die freiheitliche Demokratie auf.

Deshalb können wir die Stimmen nur zählen, wir können sie nichtwägen.

Aber das genügt nicht. Von Mehrheiten und Minderheiten wird mehrverlangt, als zählen zu können. Die Minderheit muß der Mehrheit dasRecht zur Entscheidung zugestehen. Die Mehrheit hat beim Umgang mitdiesem Recht die Pflicht, sich in der of­fenenSuche nach Wahrheit besonders zu engagieren. Sie mußih­re Entscheidung auf Grundsätze stützen, die vonallen eingese­hen und als legitim empfunden werdenkönnen. Die Entscheidun­gen müssen zumutbar sein.Keiner soll sich durch sie in seiner Existenz bedroht oderausgebürgert fühlen.

Nur so ist ein demokratischer Grundkonsens möglich, den dieVer­fassung zwar nicht vorschreibt, ohne den aberdie Demokra­tie auf die Dauer nicht leben kann. Nurso ist auch die Zu­stimmung der freien Bürger zuihrem freien Staat zu gewinnen. Nur so wachsen ihre Mitarbeit undihr Gemeinsinn.

Es gibt bei uns eine große Aktivität der Bürger. Man kann eingestärktes Bürgerbewußtsein, verbunden mit einem geschwächtenStaatsbewußtsein, beobachten. Aber heißt dies, daß sich die Bürgerdamit ganz grundsätzlich gegen den Staat wenden? Das glaube ichdurchaus nicht.

Gewiß, die einzelnen und die Gruppen nehmen in erster Linie ihreeigenen Interessen wahr. Aber sie empfinden doch sehr deutlich, daßnicht jeder frei ist, durchzusetzen, was er will, sondern daß zurVielfalt der Einzelinteressen die Ein­heit derGemeinwohlentscheidung treten muß.

Das ist es, was die Bürger vom Staat erwarten. Wenn er sieda­rin enttäuscht, wenn er nur eineDienstleistungsmaschine ist, wenn er seine ganz eigenständigeGemeinwohlaufgabe in der Ge­sellschaft nichtüberzeugend durchzusetzen weiß, wenn er also am Ende bestenfallsein bald beklatschter, bald ausgepfiffener Schiedsrichter ist, wiewill er dann seine Bürger binden und gewinnen? Wie kann er damitetwas anderes erzeugen als Ver­drossenheit gegensich selbst?

Und gibt es bei den Bürgern wirklich so wenig Gemeinsinn, wie manoft hören kann? Ist es wahr, was in Magazinen zu lesen ist,Gemeinsinn und Selbstlosigkeit lösten hierzulande nurhä­mische Mitbürgerglossen aus? Ich deute dieZeichen ganz an­ders. Es gibt viele - zumeist imStillen erbrachte - soziale Dienste aller Art in der Nachbarschaft.Junge und Alte sind daran beteiligt.

Und wenn junge Menschen eine Alternativkultur aufbauen, dann folgensie damit zunächst einmal dem Wunsch jeder neuenGene­ration, nämlich dem, daß sie ihre Welt selbstin die Hand neh­men wollen und nicht einfachMuseumswärter einer Welt ihrer Vorfahren sein wollen. Darüberhinaus aber suchen sie Aufga­ben, die ihnen dasLeben lohnend machen, die ihnen Gemein­schaftbringen, die sie spüren lassen, daß sie menschlichge­braucht werden.@

Mit unserem Staat werden sie sich um so eher identifizieren, jemehr er ihnen nicht nur das notwendige und willkommeneso­ziale Netz bietet, sondern auch ein sozialesBand, das sie vermissen.

Der Bürger - so sagte mir einer von ihnen - wird versorgt, er wirdentsorgt, er kann unbesorgt sein. Aber kann er auchgenü­gend mitsorgen, miterleben, mitarbeiten?Solche Fragen ernst nehmen, das halte ich für unsere Aufgabe. Siemögen kritisch gesagt und gefragt sein, aber sie sind positiv zuverstehen. Manche Bürgerbewegung nimmt - vielleicht unbewußt - füreinen Staat Stellung, der persönliche Verantwortung undmitmenschli­che Verbindung nicht überflüssig macht,sondern ermutigt. Auch das gehört zur Gemeinwohlaufgabe desStaates.

Herr Bundespräsident Carstens und ich haben uns über unsereAn­sprachen nicht verständigt, aber es ist dochkein Zufall, daß wir beide mit einem ganz ähnlichen Gedankenabschließen. Und so lassen Sie auch mich an den Anfang unsererVerfassung an­knüpfen.

Diese Verfassung beginnt, wie wir wissen, für das deutsche Volk mitden Worten: "Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und denMenschen ..."

Für die Berufung auf Gott gab es in der deutschenVerfassungs­geschichte keine feste Tradition. DerParlamentarische Rat fand den Mut zu diesen Worten im Hinblick aufdas Unheil des Nationalsozialismus und auf den Wahn, daß ein Volkoder der Mensch selbstmächtig, selbstherrlich, Herrenvolk,Herrenmensch sei.

Die Verantwortung vor Gott ist nicht dazu da, nachgeprüft zuwerden. Vielen mag sie vielleicht nichts bedeuten. Wer weiß, ob sieheute Eingang fände, falls wir eine neue Verfassung zu schreibenhätten. Die Verweltlichung aller Lebensverhältnisse istfortgeschritten. Eindeutig klar bleibt nur das Bekenntnis desGrundgesetzes zur Pluralität weltanschaulicherAuffassun­gen, zur Neutralität gegenüber derVielfalt religiöser oder areligiöser Leitlinien.

Dennoch ist es nicht müßig, an das Verfassungsbekenntnis zurVerantwortung vor Gott zu erinnern. Der Verweltlichung undSä­kularisierung stehen neue, teilweise heftigereligiöse Zuwen­dungen und Ausschläge gegenüber.Aufklärung, Rationalität, naturwissenschaftliche Forschung - siealle schaffen nicht nur tiefere Einsicht in die Komplexität, siebringen auch von neuem die Erkenntnis hervor, daß nicht alleserklärbar ist.@

Wir begegnen der Erfahrung, daß der Mensch nicht das Maß allerDinge ist, daß er nicht alles deuten, nicht allem und nicht sichselbst den letzten Sinn geben kann. Wenn er aber in einer Weltleben soll, die ihm diese Erfahrung bestreiten und alles weltlicherklären will, dann reagiert er darauf oft mit einer Flucht;zuletzt flieht er in Sekten und in den Fanatismus. Dies ist nichtauf den christlich geprägten Teil der Weltbe­schränkt; wir finden es im Abendland und imMorgenland.

Was folgt für uns darauf? Ganz gewiß kein politischer Auftrag zureligiöser Verkündigung. Aber es geht uns alle an, was dieWirklichkeit der Religion in der Gesellschaft bedeutet.

Jacob Bruckhardt hat darauf hingewiesen, daß die Religion imneutralen Staat den Unterschied zwischen heilig und profanverdeutliche: Das Heilige, so sagt er, ist die Ehrfurcht vor Gott,die in die Welt vordringt, in die Ehrfurcht vor demMen­schen, vor seiner Einmaligkeit, seiner Würde,seiner unsterb­lichen Seele.

Dazu mag jeder seine eigenen Auffassungen haben. Schaden aberbringt es niemandem, sich immer wieder von neuem denUnter­schied zwischen dem Letzten und demVorletzten klarzumachen, zwischen unserer Verantwortung und unserenGrenzen. Weder Na­turwissenschaftler noch Geistes-und Sozialwissenschaftler können alles erklären, erst recht nichtwir Politiker.

Die Verfassung erinnert an die Verantwortung vor Gott. Sie überläßtjedem sein Gottesbild und sein Weltbild. Aber unsal­len legt sie ein Menschenbild ans Herz, das unsentscheidend helfen kann. Gerade dort, wo uns unter den oftausweglos er­scheinenden Spannungen im Leben und inder Welt die Verzweif­lung anfällt, gerade dortkann sie uns tiefe Zuversicht geben.

Es geht nicht um große Taten, die wir uns vornehmen, es geht um diePflichten und Freuden eines jeden Tages. Der weise alte BerlinerMoses Mendelssohn schrieb:

"Auf dem dunklen Pfad, auf dem der Mensch hier auf Erdenge­hen muß, gibt es gerade soviel Licht, wie erbraucht, um den nächsten Schritt zu tun."

Dieses Licht sucht der Mensch, und ich meine, er kann esfin­den.

Davon wollen wir uns leiten lassen im täglichen Leben und inunserer Arbeit. Was ich mit meinen Kräften dazu beitragen kann,soll geschehen. Jeder, der mithilft, ist willkommen.

  

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